Dostojewskij in Deutschland
Wenn man die vielen Aufenthalte Dostojewskijs in Deutschland zusammenzählt, hat er einige Jahre seines Lebens in unserem Land verbracht. Der Grund dafür lag aber nicht etwa an einer besonderen Verbundenheit mit Deutschland und seiner Kultur, sondern es waren die extremen Lebensumstände seiner außergewöhnlichen Persönlichkeit. Besessen von seiner schriftstellerischen Arbeit, gehetzt von ewiger Geldnot und Schulden, gejagt von seinen Gläubigern, getrieben von seinen Leidenschaften, geplagt von seinen Krankheiten ist er neunmal nach Westeuropa aufgebrochen und hat viel Zeit in Deutschland zugebracht.
Er war zwar wie jeder gebildete Russe mit westeuropäischer Literatur und Philosophie aufgewachsen und insbesondere die Gestalt und das Denken Friedrich Schillers waren für ihn von enormer Bedeutung. Seine erste Reise in den Westen, bei der er in wenigen Wochen halb Europa kennenlernen wollte, konnte er aber erst nach den traumatischen Erfahrungen seiner Scheinhinrichtung, Verurteilung und jahrelangen Zwangsarbeit im sibirischen Totenhaus antreten. Von dort war er als ein anderer Mensch nach Petersburg zurückgekehrt. Da war er über vierzig und hatte schon die wesentlichen Züge seiner antiwestlichen missionarischen „russischen Idee“ entwickelt, mit der er die orthodox religiöse, vergeistigte, vom Gemeinsinn getragene Kultur Russlands der materialistischen, egoistischen des Westens wertend gegenüberstellt.
Deutschland war auf diesen ersten Reisen 1862, 1863 und 1865, die ihn u.a. nach Berlin, Dresden, Köln und an den Rhein führten, vor allem der Ort, wo er seine krankhafte Spielsucht durchlebte, mit der er einen Ausweg aus seiner ständigen Geldnot suchte, die aber offenbar für ihn auch einen eigentümlichen Antrieb für seine Schreiblust und Kreativität darstellte. Ruhelos trieb es den großen Schriftsteller in den Casinos von Wiesbaden, Bad Homburg und Baden-Baden umher, wo er immer wieder mal irgendwo festsaß, weil er seine Hotelrechnung nicht bezahlen konnte.
Dazu kam in diesen Jahren die qualvolle, leidenschaftliche Liebe des verheirateten Schriftstellers zu der exzentrischen Studentin Polina Suslowa, mit der er mehrfach reiste.
An sie sendet er einen verzweifelten Hilferuf aus einem Hotel in Wiesbaden, in dem er sich beschwert, dass man ihm weder Mittagessen noch Tee noch Kaffee serviere und die Bedienung ihm „mit einer zutiefst deutschen Verachtung“ begegne: „Es gibt für den Deutschen kein größeres Verbrechen, als ohne Geld zu sein und nicht pünktlich zu zahlen.“
Dostojewskij hat die erregenden und demütigenden Erfahrungen mit seiner Spielsucht wie auch seiner Leidenschaft für Polina Suslowa in dem Roman „Der Spieler“ von 1866 genial verarbeitet. Der Ort der Handlung Roulettenburg ist eine fiktive Mischung aus den in Deutschland liegenden Spielerhochburgen.
Auch die vierte Reise 1867, kurz nach der Hochzeit mit seiner zweiten Frau Anna Grigorjewna Snitkina war eine Flucht vor seinen Gläubigern und zog sich schließlich über fast vier Jahre hin, ehe das Paar 1871 endlich nach Russland zurückkehren konnte. Die ersten glücklichen zwei Monate verbrachten sie in Dresden, wo sie dann auch nach einer schweren Zeit in Italien und der Schweiz – dort wurde ihr erstes Kind geboren, das nach wenigen Monaten starb - zwei Jahre lang lebten. Und noch in diesen ersten Jahren seiner Ehe mit der 25 Jahre jüngeren Anna kam es immer wieder zu dramatisch verlaufenden Ausbrüchen seiner Spielsucht. Von Dresden aus machte Dostojewskij mehrmals Abstecher nach Homburg und Wiesbaden und auf ihrer Reise in die Schweiz im Sommer 1867 wurde ihr Zwischenaufenthalt in Baden-Baden – wie man dank der Aufzeichnungen Anna Grigorjewnas Tag für Tag genau verfolgen kann – zu einer Höllenfahrt zwischen irrationaler Hoffnung und tiefster Verzweiflung. Zeitweilig war – bis zum letzten Kleid Annas und den Eheringen von beiden – all ihre Habe beim Pfandleiher.
In Dresden, in der Victoriastraße 5, wurde 1869 ihre Tochter Ljubov geboren. Und die Besuche in der berühmten Dresdner Gemäldegalerie, die er von seinem ersten Aufenthalt in Dresden an immer wieder besuchte, und seine Lieblingsbilder Raffaels „Sixtinische Madonna“, Tizians „Zinsgroschen“ und Claude Lorrains „Acis und Galathea“ haben in seinem Werk tiefe Spuren hinterlassen.
Der lange Auslandsaufenthalt Dostojewskijs und seiner Frau von 1867 - 1871 und die zwei Jahre in Dresden waren geprägt von ständiger Geldnot, Sorgen und ihrem quälenden Heimweh nach Russland. Was Dostojewskij 1869 an seine Nichte Sonja aus Florenz schreibt, wiederholt sich in ähnlichen Formulierungen immer wieder: „Noch drei Monate, dann leben wir bereits seit 2 Jahren im Ausland. Meines Erachtens ist das schlimmer als eine Verbannung nach Sibirien. Ich sage das im Ernst und ohne Übertreibung“.
Es ist also nicht verwunderlich, dass Dostojewskij kaum ein tieferes Interesse für Deutschland und seine Kultur entwickelt. Auch seine Sprachkenntnisse des Deutschen sind sehr begrenzt, was er aber eher den dummen und begriffsstutzigen Deutschen anlastet: „Das ist immer so bei den Deutschen, nie verstehen sie etwas.“
Er lebt zurückgezogen und isoliert, liest fast nur russische Zeitungen und Zeitschriften und hat keinerlei Kontakt zum literarischen Milieu oder deutschen Schriftstellerkollegen. Dagegen kam es in Baden-Baden zu der für die russische Literaturgeschichte sehr wichtigen Auseinandersetzung mit dem dort lebenden Westler Iwan Turgenjew. Dostojewskij verkehrt praktisch nur mit Landsleuten und ist ständig mit seinen Gedanken in der russischen Heimat. Abgesehen von den Phasen des unbezähmbaren Spielrauschs ist er allein vom Schreiben besessen, lebt er nur für seine schriftstellerische Arbeit.
Die letzte Reise zum Roulettespiel führte ihn nur wenige Wochen vor der Rückkehr nach Russland ins Casino von Wiesbaden. Nachdem er wiederum alles verloren hatte, schreibt er in einem Brief von dort an seine Frau: „Mit mir ist Großes geschehen, der niederträchtige Wahn, der mich fast zehn Jahre quälte, ist verschwunden“ und „Nur möglichst schnell nach Russland! Schluss mit dem verfluchten Ausland und den Hirngespinsten! Oh, mit welchem Hass werde ich an diese Zeit zurückdenken!“
In den siebziger Jahren ist Dostojewskij dann doch noch viermal nach Deutschland gereist und zwar in den damals weltbekannten Kurort Bad Ems, in dem auch der deutsche Kaiser und der russische Zar Alexander II. kurten. Dostojewskij war in den Sommern 1874, 1875, 1876 und 1879 jeweils mehrere Wochen zur Kur in dem Heilbad. Diese Reisen waren für ihn von Anfang an nur eine lästige Pflicht, durch die er - im Glauben an die legendären Heilungserfolge der Emser Mineralquellen „Kränchen“ oder „Kesselbrunnen“ – auf Linderung seines Lungenemphysems hoffte. Er war damals in Russland schon ein berühmter und populärer Schriftsteller, aber seine finanzielle Lage war immer noch so, dass er seine geliebte Frau und die Kinder nicht mitnehmen konnte und deshalb sehr unter der Trennung von ihnen litt. Seine detaillierten Berichte über den Kurbetrieb in Bad Ems sind von kulturhistorischem Interesse.
Dostojewskijs gewaltiges Romanwerk ist ohne seine Aufenthalte in Deutschland kaum zu denken. In Wiesbaden entstand der Plan zu dem Roman „Verbrechen und Strafe“; der Handlungsort des „Spielers“ ist Deutschland; in Dresden schrieb er den Roman „Der ewige Gatte“ und Teile der „Bösen Geister“; in Bad Ems arbeitete er an dem Roman „Ein grüner Junge“ und hier schloss er das Kapitel „Ein russischer Mönch“ ab, einen Schlüsseltext seines großen Vermächtnisromans „Die Brüder Karamasow“.
Karla Hielscher